Ein Härtetest: Der Orkan Vivian
Ein Härtetest: Der Orkan Vivian
«Der Sturm des Jahrhunderts vom Montag, 26. Februar, bis Mittwoch, 28. Februar 1990, hat nebst ausserordentlichen Arbeits-Einsätzen auch erhebliche finanzielle Mittel gekostet: Aufwand in unseren Mittelspannungsnetzen ca. 180'000 Franken, Aufwand in unseren Niederspannungsnetzen ca. 450'000 Franken.» So lautete die Bilanz, die in der SAK Hus Zitig 1/91 zum Sturm Vivian präsentiert wurde. Entwurzelte oder geknickte Bäume beschädigten die Freileitungen massiv, und auch moderne Betonmastenleitungen blieben nicht verschont. Entsprechend war das Personal der SAK bis an seine Grenzen – und oft auch darüber hinaus – gefordert.
«Unsere Betriebs- und Netzbauabteilung kämpfte mit jedem verfügbaren Mitarbeiter praktisch rund um die Uhr gegen die elementare Gewalt dieses lang andauernden Sturmes, um den immer wieder neu auftretenden Störungen in unserem Versorgungsnetz Herr zu werden», schrieb Vizedirektor Herbert Meier in der SAK Hus Zitig 2/90. «Die unberechenbaren Windböen und die zum Teil ergiebigen Regenfälle erforderten allergrösste Vorsicht bei den Räumungs- und anschliessenden Instandstellungsarbeiten.» Weiter wies Meier daraufhin, dass sich bei dieser Grossstörung einmal mehr die Notwendigkeit gezeigt habe, «auf langjährige erfahrene Mitarbeiter zählen zu können, welche auch bereit sind, ihre Arbeit unter widrigen Wetterbedingungen und erheblichem Gefahrenrisiko zu verrichten».
«Seit 36 Stunden nicht mehr aus den Kleidern»
Im Kanton St.Gallen fielen dem Sturm rund 300'000 Kubikmeter Wald zum Opfer. Eine Meldung jagte die andere: «Engelburg und Wittenbach ohne Strom! Ausfall der Leitung Wattwil-Nesslau: Bis zur Fehlerstelle müssen 20 Bäume weggeschafft werden. Unterbruch der Leitung Oberbüren-Lenggenwil.» Vom Stromunterbruch betroffene Kundinnen und Kunden wurden schnell einmal ungeduldig. Da fehlte das heisse Wasser, um den Schoppen zu wärmen; dort waren ohne Infrarot Küken vom vorzeitigen Tod bedroht. Die Telefonzentrale der SAK erlebte «aufgeregte, zornige, lieblose, aber auch anständige und verständnisvolle Zeitgenossen». Am Morgen des dritten Tages klangen die Stimmen des im Einsatz stehenden Betriebspersonals «eigenartig heiser und hohl». Die betroffenen Männer, so der Bericht in der SAK Hus Zitig 2/90, «sind seit 36 Stunden nicht mehr aus den Kleidern gekommen und physisch wie psychisch erschöpft». Doch Anweisungen, sich auszuruhen, wurden abschlägig beantwortet. «Das Pflichtgefühl lässt es nicht zu; zuviel ist noch zu tun.» Als unschätzbarer Vorteil erwies sich, dass dank dem neuen Verteilnetz-Führungssystem der Leitstelle detaillierte Netzpläne zur Verfügung standen, welche rasche Entscheidungen ermöglichten für die dauernd notwendigen Netzumschaltungen. Und zum Glück waren keine Unglücksfälle zu verzeichnen. Ein Mitarbeiter hatte allerdings Pech: Ein orkanartiger Windstoss wirbelte ihn über einen Abhang hinunter, wo er beim Aufprall auf einen Leistungsmast den Oberarm brach. So massiv war die Wucht des Sturms. In ganz Europa kostete Vivian 64 Menschen das Leben.
Und noch ein Jahrhundertsturm
Während Vivian am härtesten die nördlichen Voralpen traf, wo grosse Flächen Gebirgswälder zerstört wurden, hinterliess beinahe zehn Jahre später, am 26. Dezember 1999, das Orkantief Lothar auch im Schweizer Mittelland eine verheerende Spur. «Umstürzende Bäume und Windböen verursachten im ganzen Versorgungsgebiet massive Schäden an Leitungen und Tragwerken», hiess es dazu in der SAK Hus Zitig 1/2000. «Den ausrückenden Einsatzkräften war vielerorts der direkte Zugang zu den Schadenplätzen infolge Versperrung der Strassen mit Sturmholz verwehrt. Über fünfzig Personen standen in verschiedenen Funktionen bis spät in die Nacht des Stephanstages und an den folgenden Tagen im Dauereinsatz. Dank dieser ausserordentlichen Leistung aller beteiligten Einsatzkräfte konnten bis zum frühen Montagabend» – also innert gut 24 Stunden – «sämtliche Gebiete wieder mit Strom versorgt werden.» Aber damit war die Arbeit ja noch längst nicht getan… Mit Versicherungsschäden in Europa von etwa sechs Milliarden Dollar gehört Lothar zu den teuersten atlantischen Sturmtiefs der Geschichte.
Weil Vivian und Lothar zeigten, dass die Monteure auch bei extremsten Verhältnissen ausrücken mussten, beschloss die SAK in der Folge, als Betriebsfahrzeuge nur noch Allrad-Fahrzeuge anzuschaffen und diese systematisch mit Druckluftbremsen auszurüsten. Eine weitere Erfahrung war, dass es bei derartigen Katastrophen wichtig ist, frühzeitig den Personaleinsatz zu planen. Sonst besteht die Gefahr, dass plötzlich alle im Einsatz stehenden Leute gleichzeitig erschöpft sind. Und schliesslich machten die Stürme drastisch klar, dass Freileitungen viel störungsanfälliger sind als Bodenleitungen.
Mario Schnetzler
Ein junger Direktor und ein leerer Gübsensee
Mario Schnetzler war von 1967 bis 1993 Direktor der SAK. Damit trug er auch die Verantwortung für den Ersatz des in die Jahre gekommenen Kraftwerks Kubel im St.Galler Sittertobel. 1977 wurde nach vier Jahren Bauzeit ein modernes Kavernenkraftwerk in Betrieb genommen.
Mario Schnetzler
«Ich übernahm mit 39 Jahren und von Zürich kommend die Direktion der SAK. Mein erster Arbeitstag begann mit einer Sitzung des Verwaltungsrats. Ich parkierte vor der SAK, auf dem Platz, den man mir zugewiesen hatte. Ein Mitarbeiter kam auf mich zu und meinte, ich dürfe mein Auto da nicht abstellen, der Platz sei reserviert für den neuen Direktor. Später, nachdem er herausgefunden hatte, dass ich der neue Direktor war, gab er zu, nicht mit einem so jungen neuen Direktor gerechnet zu haben.
Von Beginn weg beschäftigte mich das Kraftwerk Kubel beim Zusammenfluss von Urnäsch und Sitter. Es produzierte noch elektrische Energie, war aber marode und musste ersetzt werden. Man hatte verschiedene Umbauten und Erweiterungen vorgenommen und es stellte sich heraus, dass sich weitere Erneuerungen nicht mehr rechneten. Ein vollständiger Neubau am Standort des alten Werkes war wohl die einzig richtige Lösung. Er hätte aber eine schlechte und hydraulisch alles andere als optimale Wasserzuführung beinhaltet, denn an einer Stelle machte die Druckleitung einen fast rechtwinkligen Bogen. Wir suchten die Zusammenarbeit mit der Nordostschweizerischen Kraftwerke AG (NOK), allerdings war ihre Bauabteilung auf lange Zeit ausgelastet. Man empfahl uns, die Bauabteilung der Maggiakraftwerke AG zu konsultieren. Nach Abschluss zahlreicher Kraftwerkbauten an der Maggia formierte sich das eingespielte Team als eigenständiges Ingenieurbüro. Unzweifelhaft waren hier die Kapazitäten, das nötige Wissen und die Bereitschaft, neue Aufträge entgegenzunehmen vorhanden.
So begaben wir uns mit den Tessinern ins Sittertobel hinunter. Sie bemerkten die mächtigen Nagelfluhfelsen beidseits der Sitter und schlugen vor, eine Kavernenzentrale zu bauen. Etwas erschrocken erklärte ich ihnen, einen so kühnen Bau könne sich die SAK nicht leisten. Sie entgegneten jedoch, dass man während des Baus das alte Werk in Betrieb halten und weiter Strom verkaufen könne, was unter dem Strich nicht teurer käme als ein konventioneller Bau. Wir entschieden uns nach sorgfältigen Berechnungen für diese Lösung. 1977 nahm die SAK nach vier Jahren Bauzeit ein modernes Kavernenkraftwerk, wie man es eigentlich nur in den Alpen baut, vor den Toren der Stadt St.Gallen in Betrieb. Wir mussten nur noch das neue Kraftwerk ein- und das alte ausschalten. Kurzzeitig betrieben wir so beide, was fast doppelt so viel Strom erzeugte, aber auch den Gübsensee innerhalb weniger Stunden leerte.
Zur Einweihung des neuen Kraftwerks sang die Primarschulklasse von Christian Zinsli, ein begabter Lehrer und Naturschützer. Er war Präsident des Naturschutzvereins St.Gallen und Umgebung, des NVS. Wir schickten jeweils unsere drei Töchter in seine Ferienlager. Er verstand es, die Jugendlichen für die Umwelt zu begeistern, und wenn unsere Kinder zurückkehrten, kannten sie jeweils sämtliche heimischen Pflanzen. Jahre später, kurz vor dem 75-Jahr-Jubiläum der SAK, fand der NVS am Westdamm des Gübsensees ein besonntes Gebiet, das sich für ein Biotop besonders eignete. Er legte uns ein Projekt samt Kostenschätzung vor. Der Verwaltungsrat bewilligte als Spende anlässlich des 75-Jahr-Jubiläums einen Kredit von CHF 60'000. Ausgezeichnete Witterungsbedingungen ermöglichten schliesslich den Bau des Biotops mit topografischer Gestaltung und einem Weiher beinahe zum halben Offertpreis. Ich informierte Zinsli telefonisch über das Geschenk. Lange Sekunden war es still am anderen Ende der Leitung. Dann meinte er: ‹Ich muss mich setzen. Was haben Sie gerade gesagt?› Ich bestätigte ihm, dass wir die Kosten tragen würden, den Unterhalt aber müsse der NVS leisten. Das war für Zinsli selbstverständlich. Dann eröffnete ich ihm, dass wir ihm auch die unangetastete Hälfte des Kredits schenken würden – für den Unterhalt der ersten Zeit. Das wagte er kaum zu glauben und sagte: ‹So etwas habe ich noch nicht erlebt.› Als Naturschützer war er sich eher negative Reaktionen seitens der Wirtschaft gewohnt. Wir hatten aber schon zuvor eine fruchtbare Beziehung. Verhandlungen mit ihm als Vertreter des Naturschutzes verliefen sehr konstruktiv, damit hatte er sich eine positive Reaktion mehr als verdient. Das Biotop macht heute noch vielen Spaziergängerinnen und Spaziergängern am Gübsensee Freude.»
Mario Schnetzler war von 1967 bis 1993 Direktor der SAK.
Zahlen und Fakten
247
2’325 km2
380’000
2’264 Mio. kWh
7 Kraftwerke
38 Unterwerke
816 Trafostationen
ca. 3’500 km Stromnetz